Normalerweise will er auf Gipfeln oben stehen. Dass es zuerst in die dunkle Tiefe geht, war selbst für Dani Arnold eine neue alpinistische Erfahrung.
Ein Gletscher ist keine kompakte Masse aus Eis. Bekannt und gefürchtet sind die Spalten: traversiert man eine über eine Schneebrücke, so lässt die Dunkelheit darunter erahnen, dass es hier weitergehen könnte. Doch kaum ist man an den Spalten vorbei, hat man die geheimnisvolle Unterwelt schon wieder vergessen. Das galt bislang auch für Dani Arnold. Dabei ist das Eis seine Welt - und wo sonst gibt es eine Umgebung, die rundum aus Eis geschaffen ist?
Nachdem die Höhlenforscher Fred Bétrisey und Hervé Krummenacher ihre Eishöhlenerkundung auf der Plaine Morte für den Tages-Anzeiger und damit für die Öffentlichkeit zugänglich machten, war auch das Interesse von Dani Arnold geweckt. Der grösste Plateaugletscher der Alpen fliesst praktisch nicht und weist ausser an seiner nördlichen Zunge keine Spalten auf. Das macht die Plaine Morte einerseits zu einem unspektakulären Gletscher ohne Spaltenzonen. Zum anderen bedeutet es auch, dass wenige Spannungen im Eis sind als in einem stark fliessenden Gletscher - also weniger Einsturzgefahr. Das erlaubt den relativ sicheren Abstieg durch Gletschermühlen, wo im Sommer Millionen Liter Schmelzwasser runterstürzen.
Als wir Mitte Dezember losziehen, sind wir dennoch skeptisch - denn bereits ist viel Schnee gefallen. Viele der Eingangslöcher sind verstopft. Nur an einer Stelle sieht es so aus, als hätte der Schnee noch nicht ganz dicht gemacht. Dani wagt sich vorsichtig auf das halbwegs eingeschneite Loch zu. Vor ihm tut sich ein dunkler Schacht auf. Zum ersten Mal sei diese Gletschermühle zugänglich, sagen Fred und Hervé, welche die Plaine Morte kennen, wie sonst kaum jemand. Wir seilen rund 50 Meter senkrecht in die Tiefe - an einen Ort, wo noch keine Menschenseele war. Unten setzen sich die Gänge horizontal fort: wir kriechen in schmalen Schächten auf den Pfaden, die das Schmelzwasser hier im Sommer schafft - als wir plötzlich auf Fels stossen. Dass wir den Felsgrund schon in einer relatuv geringen Tiefen von rund 60 Metern antreffen, überrascht. “Wenn man bedenkt, dass die Gletscher jedes Jahr meterweise an Dicke verlieren, so geht es wohl nicht mehr lange, bis man hier mit Turnschuhen hinläuft”, meint Dani.
Die Plaine Morte ist bis zu 200 Meter dick, wie schnell man auf den Felsgrund stösst, hängt auch von der Topografie unter dem Eis ab. Andernorts kann man den Weg durch die Gletschermühlen 100 Meter unter der Oberfläche verfolgen, das wurde bislang erst von Fred und Hervé gemacht. Und dort sei noch nicht Endstation, der Felsgrund liegt also noch tiefer. Doch die Fortbewegung kann dann bedeuten, dass man in Taucheranzügen durch wassergefüllte Gänge schwimmt.
Auf uns wartet aber der Weg an die Oberfläche: steile Eiskletterei in pickelhartem Gletschereis. Eine Eisklettertour, die jedes Jahr anders aussieht - und vor allem kürzer wird. Denn die Plaine Morte gehört zu den am schnellsten schmelzenden Schweizer Gletscher. Als grösster Plateaugletscher der Alpen hat sie kein Nährgebiet und der winterliche Schnee überdauert den Sommer nicht mehr. Bis 2100, so berechneten Glaziologen der Uni Fribourg, dürfte das ewige Eis verschwunden sein.
Text: Dominik Osswald